Die Zeitmühle

Eines Tages träumte ich … und fand mich auf einer großen Wiese wieder. Dort erblickte ich seltsame Blumen und Gewächse. Die meisten waren schön und bunt und dufteten herrlich. Einige jedoch waren stachlig, andere stanken faulig oder bitter und ein paar schienen mir hart und verdorrt.

Etwas entfernt entdeckte ich ein Häuschen. Als ich näher kam, sah ich, dass es eine Mühle war, die von einem kleinen Bach angetrieben wurde. Plötzlich bemerkte ich eine alte Frau, die auf mich zukam und mich gütig ansah. Sie nahm eine große Sense – und mir wurde etwas unwohl. Dann mähte sie ohne weiter hinzusehen ein Stück der Wiese und sammelte ein, was sie geschnitten hatte und nahm es mit in die Mühle.

„Komm herein“, hörte ich sie rufen. In der Mühle, im ganzen Häuschen verteilt, standen unendlich viele kleine Sanduhren. Die Alte warf das Gemähte in die Mühle und lauschte dem Klang des Mahlsteins. „Was tut Ihr hier?“, fragte ich die Alte, die zwar in meine Richtung sah, aber nicht mehr gut zu sehen schien. „Ich mahle die Zeit“, lächelte sie mich an und das von Falten zerfurchte Gesicht bekam noch etwas mehr Freundlichkeit.

Dann stellte sie einen Kessel unter die Öffnung der Mühle und heraus fiel … eine Art Sand. Erst jetzt bemerkte ich, dass all diese kleinen Sanduhren an der oberen Seite offen waren. Dann nahm sie den Kessel und warf den Sand in die Luft. Da dort so viele Sanduhren standen, fiel in viele davon etwas hinein. In manche jedoch auch nicht und Sand fiel auf den Boden.

Ich schaute sie erstaunt an, „Ihr werft den Zeitsand in die Luft? So wird ein Teil verschwendet und in einige Uhren fällt kein Sand mehr. Was geschieht dann?“. „Wenn kein Sand mehr fließt, endet ein Leben.“, antwortete sie mir, „Die Menschen verschwenden so viel meiner Zeit, dass immer etwas Sand daneben fällt.“ 

Ich fragte sie nach den sonderbaren Pflanzen, die ich gesehen hatte und sie erklärte mir, dass manche die schönen und andere die bitteren, schmerzhaften Momente schenken. „Ihr könntet die bitteren, faulen und dornigen Pflanzen aussortieren, bevor Ihr den Zeitsand mahlt.“, schlug ich ihr vor. Sie sah mich an und entgegnete, “So wie alle Blumen und Gewächse auf dieser Wiese wachsen sollen, so gehören zum Leben auch die bitteren und schmerzlichen Momente dazu. Jedes Sandkorn findet seine Uhr und lässt einen Menschen wachsen. Ich achte nur darauf, dass die Wiese bunt bleibt.“

„Welche ist meine Uhr?“, fragte ich sie ängstlich, „Wie viel Zeit bleibt mir? Was wenn sie in einer Ecke steht und dort kein Sand mehr hin gelangt?“. Ich schaute auf einige der Uhren bemerkte, dass zwar oben Sand durchlief, jedoch unten kein Sand am Boden der Sanduhr ankam. Als die Alte meinen Blick bemerkte, erklärte sie mir, dass nur gelebte Zeit am Boden gesammelt wird, als Erinnerungen an ein Leben. Verschwendete Zeit jedoch verfliegt.

Dann wandte sie sich mir zu und sagte, „Sieh nicht auf die obere Hälfte der Uhr und frage Dich, wie viel Sand dort sein wird, sondern LEBE jeden Moment und sorge dafür, dass so viel wie möglich Sand der Erinnerungen am Boden des Glases liegen bleibt. Das ist das einzige, was zählt.“

 

(© Praxis Der Zuhörer – Steffen Zöhl, 2017)

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