Wer weiß, wozu es gut ist…

Ein alter Mann lebte zusammen mit seinem einzigen Sohn auf einer kleinen Farm. Sie besaßen nur ein Pferd, mit dem sie die Felder bestellen konnten und kamen gerade so über die Runden.

Eines Tages lief das Pferd davon. Die Leute im Dorf kamen zu dem alten Mann und riefen „Oh, was für ein schreckliches Unglück!“ Der alte Mann erwiderte aber mit ruhiger Stimme: „Wer weiß…, wer weiß schon, wozu es gut ist?“

Eine Woche später kam das Pferd zurück und führte eine ganze Herde wunderschöner Wildpferde mit auf die Koppel. Wieder kamen die Leute aus dem Dorf: „Was für ein unglaubliches Glück!“ Doch der alte Mann sagte wieder: „Wer weiß…, wer weiß schon, wozu es gut ist?“

In der nächsten Woche machte sich der Sohn daran, eines der wilden Pferde einzureiten. Er wurde aber abgeworfen und brach sich ein Bein. Nun musste der alte Mann die Feldarbeit allein bewältigen. Und die Leute aus dem Dorf sagten zu ihm: „Was für ein schlimmes Unglück!“ Die Antwort des alten Mannes war wieder: „Wer weiß…, wer weiß schon, wozu es gut ist?“

In den nächsten Tagen brach ein Krieg mit dem Nachbarland aus. Die Soldaten der Armee kamen in das Dorf, um alle kriegsfähigen Männer einzuziehen. Alle jungen Männer des Dorfes mussten an die Front und viele von ihnen starben. Der Sohn des alten Mannes aber konnte mit seinem gebrochenen Bein zu Hause bleiben. „Wer weiß…, wer weiß, wozu es gut?

Seit ich vor vielen Jahren diese Geschichte gelesen habe, ist sie mir immer wieder einmal in den Sinn gekommen. Vor allem dann, wenn ich mich dabei ertappt habe, ein Ereignis vorschnell zu beurteilen. In der Zwischenzeit ist es schon fast zur Manie geworden, dass ich –manchmal zum totalen Unverständnis meiner Umwelt- laut frage: „ wozu mag das wohl gut sein“?

Allein durch diese Fragestellung richte ich mein Bewusstsein auf die positiven Aspekte einer Sache, mehr noch, ich unterstelle sogar, dass das Leben permanent über die erlebte Realität zu mir „spricht“. Es geht dabei nicht einfach darum, die offensichtlich negativen Umstände nun von einer positiven Seite zu sehen, nein, worauf ich meine Aufmerksamkeit richte, ist vielmehr der konstruktive Aspekt.

Wie kommt ein Mensch nur auf so eine verrückte Art, die Dinge zu betrachten? Ganz einfach: in dem er zurück blickt auf sein bisheriges Leben und zwar mit genau dieser Fragestellung: „wozu war das alles gut, was mir bisher widerfahren ist“?

Machen Sie doch selbst einmal dieses Experiment und Sie werden feststellen, dass alles, was Sie erlebt und vielleicht auch durchlitten haben, genau zu Ihren jetzigen Erkenntnissen geführt haben. Nichts wäre heute so, wenn Sie eine andere Realität erlebt hätten. Ich meine, wirklich nichts! Es ist wie ein Puzzle, alles reiht sich in eine kausale Kette. Und viele Zusammenhänge erkennen wir erst mit einem zeitlichen Abstand. Die Bedeutung des Wortes Weisheit lautet ja nicht ohne Grund „die Dinge von außen zu betrachten“.

Meine Erkenntnis war jedenfalls bei diesem Gedankenspiel, dass ich seit damals immer wieder frage: „wozu mag dies oder das wohl gut sein?“ Und ich gönne mir dabei jede zeitliche Dimension.

Was mögen z.B. damals, na so ungefähr vor 65 Millionen Jahren die Dinosaurier gedacht haben, als ein gigantischer Meteorit ihnen und über 90% aller Mitbewohner den Garaus gemacht hat? Sie hätten sicher nichts Positives daran gefunden, nicht wahr? Aber wir Menschen wissen heute, dass unsere Spezies ohne diese „Katastrophe“ nicht entstanden wäre.

Zugegeben, diese Zeiträume sind sicher extrem. Aber, wenn man sich einmal die Mühe macht, die ganze Erdgeschichte, ja die ganze kosmische Entwicklung in ihrer Kausalität zurück zu verfolgen, dann stellt man mit viel Ehrfurcht fest, dass wohl wirklich alles notwendig war, damit wir heute diese Realität erleben können. Wenn es nun noch gelingt, den Verstand von der permanenten Einschätzung „gut für mich oder schlecht für mich“ zur Fragestellung „wann werde ich wohl verstehen, warum es gut ist, dass dies oder das geschehen ist“ zu bringen, dann wird das Leben konstruktiver. Vielleicht sogar schöner und leichter, auf jeden Fall aber verständlicher. Und irgendwann sind wir dann vielleicht genau so weise, wie jener alte Mann in der Geschichte.

Wozu Kriege, Verbrechen (falls das nicht das Selbe ist), Tod und Krankheit gut sind, werden wir vielleicht niemals verstehen, jedenfalls nicht mit dem Verstand. Das Prinzip der Polarität hat mir aber sehr geholfen auf dem Weg der Erkenntnis. Es postuliert, dass es keine Gesundheit gäbe, wenn wir nie krank wären, dass wir den Frieden nur genießen können, wenn wir wissen, was Krieg bedeutet und so weiter. Wenn aber die eine Polarität die gegenteilige sogar bedingt, dann hilft das –zumindest als Ansatz- zum Verständnis dessen, was wir Evolution nennen. Wer weiß, ja wer weiß denn schon, wozu sie gut ist….? Ich jedenfalls unterstelle ihr, dass auch sie einen Sinn hat, auch wenn ich ihn (noch) nicht verstehe.

Albrecht Henze

Quelle: http://www.henze-partner.com/

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